Freitag, 31. Dezember 2021
Notizen 4
Dieter Schönecker, sehr fein beobachtet ("Warum moralisch sein? Eine Landkarte für moralische Realisten"):

"Wie fast immer in der Philosophie ist auch mit Blick auf die Theorie moralischer Motivation und Geltung nicht damit zu rechnen, daß es etwas wirklich ganz Neues zu sagen gibt. So wenig, wie man "einen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden" (Kant, KpV) könnte, so wenig sind auch auf der eher me­taethischen Ebene völlig neue Argumente zu erwarten. Fast alles ist schon einmal gesagt worden, und den Eindruck, auf neuen Wegen fortzuschreiten, kann mit ganz wenigen Ausnahmen nur derjenige haben, der nicht bemerkt, daß sein Rad, auf dem er sich fortbewegt, bereits erfunden war. Doch jede Generation muß wohl für sich und auf ihre Weise nach Klarheit suchen; Orientierung und Selbstvergewisse­rung sind das Ziel, nicht eine neue Theorie'.

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Information Philosophie 3/2021 und 4/2021 sind ziemlich interessant, insbesondere der Leserbrief von Matthias Schulze 04/2021, p. 76ff als Reaktion auf die Debatte zu "Philosophie und Identitätspolitik". Schulze drückt es noch zurückhaltend aus...aber: Rawls ein Identitätstheoretiker...oh weia. Sowas schmerzt ganzkörperlich.

Nun findet sich in 04/2021 eine weitere Debatte zu einem ganz ähnlichen Thema, bei denen einige Teilnehmer/innen mit ähnlich problematischen Argumenten operieren. Es geht um die Frage, inwieweit Klassiker wie etwa Hume, Kant, Hegel Rassisten gewesen seien und was das bedeute. Dass sie aus heutiger Sicht Rassisten 'sind' (waren), ist nun natürlich völlig unstrittig. Aber sind es bloße Fehler, weil selbst Genies eben Kinder ihrer Zeit sind, oder haben sie ihre Konzepte rassistisch motiviert entwickelt, sind ihre Konzepte rassistisch (und antisemitisch) kontaminiert? Darum geht es doch!

Und da lese ich z.B.: "seine (Hegels, hf) diesbezüglichen Ausführungen (rassistischer Art, über angeblich mindere Entwicklungsstufen zB bei Afrikanern, usf hf) sind nicht bloß persönliche Meinungen außerhalb der Philosophie, vielmehr sind sie sorgfältig in Hegels System integriert und stehen in engem Zusammenhang mit wichtigen hegelschen Themen wie der Herr-Knecht-Dialektik, dem Freiheitsbegriff und dem Geschichtsverständnis." (James/Knappik) da wüsste ich gerne Näheres. Inwiefern ist der Satz "Alle Menschen sind gleich, ihre Menschenwürde darf niemals gebrochen werden" rassistisch kontaminiert? Oder bin ich nicht vielmehr in Selbstwidersprüche verstrickt, wenn ich jenen Satz äußere, um hinzu zu fügen "Und die Frauen und Schwarzen und Juden hier sind übrigens minderwertig"? Pauline Kleingelds Antwort auf die Frage, wie sich Kants Rassismus mit seiner universalistischen Moral vereinbaren lasse: "Buchstäblich genommen lassen sie sich gar nicht vereinen. Kants Verteidigung der Sklaverei ist offensichtlich unvereinbar mit dem Verbot, andere Menschen bloß als Mittel zu gebrauchen. Das hat er später selbst auch eingesehen." Eben. Punkt.

Dass Menschenrechte/Menschenwürde/Humanität denunziert werden, weil es weiße, rassistische Männer waren, die diese Konzepte zuerst in elaborierter Form ausformulierten/ausformuliert haben sollen, halte ich für bedenklich. Zunächst einmal: Ich halte die geistesgeschichtliche These, das Konzept Menschenrechte sei exklusiv im europäisch-nordamerikanischen Raum entwickelt worden, ohnedies schon auf der Ebene der Fakten für mehr als strittig. Konfuzius, Timbuktu-Handschriften, ubuntu-Konzept undundund, yougoogleit. In der schein-kritischen These von den Menschenrechten, die angeblich wesentlich von weißen privilegierten europäisch-nordamerikanischen Männern ge/erfunden worden und als deren Herrschaftsinstrument zu dekonstruieren seien, kommt in versteckter Form auch wieder nur europäischer Hochmut zum Ausdruck.

Die These ist aber auch in systematischer Hinsicht mehr als problematisch. Die ganze Debatte schwelt ja seit Jahrzehnten, wird aus allen möglichen Perspektiven geführt, seit geraumer Zeit auch unter dem Stichwort "interkulturelle Philosophie". Ich finde das alles anregend - und dennoch: Keine Kultur darf priorisiert werden? Ein Gespräch soll also auf Augenhöhe stattfinden? How interesting! Wer hätte das jetzt gedacht. "Ich werde Ihre Aufmerksamkeit lobend erwähnen!" (Captain Kirk)

Ein Gespräch k a n n nur auf Augenhöhe stattfinden - alles andere sind Weisungen (in bestimmten Kontexten legitim!), Belehrungen (was bekanntlich nicht immer falsch sein muss!), Befehle (dito) etc. Und natürlich darf keine Kultur priorisiert werden. Nur: dass ein Gespräch auf Augenhöhe stattfinden muss, dass keine Kultur priorisiert werden darf folgert sich, verzeihung, doch schlicht aus dem Gleichheitspostulat, aus nichts sonst. Mir haben die partikularistischen Konzepte der letzten Jahrzehnte nicht ein plausibles Argument an die Hand gegeben, aus denen o h n e (und sei es versteckte) Zuhilfenahme universalistischer Ansätze der selbstredend goldrichtige Satz "Frauen (Schwarze/Schwule/younameit) zu benachteiligen ist ungerecht und darf nicht sein" folgt.

Dies gilt auch für Regeln, die beim Abbau vorhandener Ungleichheiten helfen sollen - etwa der Frauenquote. Warum sollte ich die Benachteiligung von Frauen (Schwarzen/Schwulen/younameit) denn abbauen, wenn nicht wegen eklatanter Verletzung des Gleichheitsgebots? "Du warst bis jetzt benachteiligt, deswegen wirst Du jetzt etwas bevorzugt" ist keine Einschränkung der Universalisierung, sondern folgt erst aus ihr.

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