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Samstag, 27. November 2021
Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten
laienphilosoph, 13:04h
Ich bin mit dem Buch nicht wirklich glücklich geworden.
Disclaimer: Ich habe es mir bei der Bundeszentrale erst besorgt, nachdem ich Christian Weidemanns vernichtende Rezension (die innerhalb der 'Szene' ja die Runde machte) gelesen habe. Ich wollte wohlwollend lesen, dachte auch ein bisschen an den Neid und die Häme, an denen in der akademischen Szene ja kein Mangel ist. Leider, muss ich sagen, hat Weidemann im wesentlichen Recht.
Zunächst einmal: ich kann so gut wie alle konkreten moralischen Thesen Gabriels unterschreiben. Humanismus, Universalismus, gegen Moralrelativiererei - für den Hausgebrauch ist das nicht schlecht. Eine Gabriel-Welt ist wohl eine, in der zu leben, gut zu leben ich mir im Großen und Ganzen vorstellen könnte; Differenzen können dann ja in einer seriösen, von gegenseitiger Achtung geprägten Debatte geklärt werden. (Ist überhaupt eine zwar grobe, aber ganz gute, weil zielführende Methode für einen Laien, einen moralphilosophischen Text zu bewerten: Möchtest Du in der Welt, die dort entworfen wird, gerne leben?) Da gibt es sozusagen nicht viel zu meckern, wenn ichs mal norddeutsch sagen darf. (Ja gut, die verunfallte Schwimmbadgeschichte, bei der Gabriel vergessen hat, die Perspektive der Kassiererin einzunehmen... Darf nicht passieren! Geschenkt, auch wenns peinlich war.)
Moralphilosophisch wird es schwieriger. Seinen starken Realismus würde ich so nicht mitmachen, und das Mackie-Problem präsentiert er deutlich unterkomplex. Ich selber, das sei hier ohne Argument zum besten gegeben, bin 'Wahrheitswert-Realist, ich halte moralische Urteile für zustimmungs- und somit wahrheitswertfähig. Mehr braucht es m.E. nicht. Allerdings m.E. auch nicht weniger. Ich könnte mit einem starken moralischen Realismus leben, aber er begründet ihn nicht. Weidemanns Kritik daran, dass Gabriel seine Begriffe sehr unsauber einführt und kaum argumentiert, ist leider zutreffend, auch die wohlwollende Interpretation rettet ihn nicht: Sicher, Gabriel schrieb ein populärwissenschaftliches Buch. Was er jeweils adressiert ist allen, die die Debatten so halbwegs kennen, klar. Aber in der Tat: "So geht es nicht!" (Weidemann)
Universalismus ist kein Eurozentrismus - richtig! (Übrigens schon faktisch nicht: das afrikanische Ubuntu, der chinesische Konfuzianismus, younameit waren und sind ebenfalls on the road to real universalism. Und mehr als on the road ist der Westen ja nun auch nicht...) Seine scharfe Kritik am Kulturrelativismus kann ich einerseits mitmachen. (Nein, Frauenbeschneidung, mein Beispiel, muss nicht "kulturwissenschaftlich interpretiert" werden - Frauenbeschneidung ist schlicht und einfach falsch, punkt. Wer es mir nicht glaubt fragt eine Frau, sofern er eine kennt.) Zugleich aber unterschlägt Gabriel die Dimension Geschichte/Geschichtlichkeit. Geschichtsphilosophisch haben wir hier die 6-Millionen-Dollar-Frage vorliegen. Humanität gilt immer und überall und galt letztlich auch immer und überall (da gehe ich mit Gabriel mit), zugleich haben wir die Existenz geschichtlicher Bedingtheiten zu akzeptieren (ansonsten sollten wir Kants Werke tatsächlich verbrennen; die aus heutiger Sicht völlig indiskutablen Schriften über 'Menschenracen' existieren ja nun mal). Just Kant selber hat interessante Antworten gegeben darauf, wie wir das dialektische Verhältnis zwischen geschichtlicher Bedingtheit und moralischer Unbedingtheit ausdeuten können; Gabriel hätte gut daran getan, noch einmal zur "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" zu greifen. Ja, aus moralischer Perspektive war es, Gabriels Beispiel, auch 1880 falsch, Kinder zu schlagen. Aus Gattungsperspektive muss man sagen: Es war damals leider so, man glaubte, das richtige zu tun, und es kann dargestellt werden, warum die humane Perspektive damals (noch) unvollkomen(er) entwickelt war (als heute). Nicht zuletzt aus dieser Zwitternatur des Menschengeschlechts - wir sind moralische Wesen und zugleich heteronom (kulturell, sozial, geschichtlich, ökonomisch, geschlechtlich, biologisch) bestimmte Naturwesen - erwachsen ja all unsere Probleme. Ein kleiner Schuss Ranke (und ein sehr großer Schuss Kant!) täte uns allen gut.
Schwierig wird es auch bei seiner Kritik an der Postmoderne. Über social-warriors, die ihre Angriffe auf Andersdenkende mit schlecht angelesener postmoderner Theorie befeuern ("Wer Rassist ist, bestimme ich" herrmanngöringt es aus ihnen), müssen wir nicht reden. Die Preisgabe der Kategorie Tatsache haben viele - darunter auch ein blutjunger Hamburger Philosophiestudent - schon damals in den End80ern für unselig gehalten. Bekanntlich von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus. To drop some names: Ian Hacking, Thomas Nagel, Martha Nussbaum. Soweit, so d'accord. Aber Gabriel übersieht, dass die Postmoderne ihre Verdienste hat. Was er kritisiert, und in dieser Schärfe auch zu recht kritisiert, ist die Postmoderne im Zustand ihrer Verhunzung. Sozusagen verdinglichter Derrida. Aber der Komplexität 'der' Postmoderne (die es als 'die' Postmoderne ohnedies nicht gibt) wird er nicht gerecht. Seine Darstellung Rortys ist nun wirklich bloße Karikatur, das geht so nicht. Rortys liberale Ironikerin ist denn doch komplexer.*
Empfehlung? Schwierig. Man wird nicht dümmer durch die Lektüre. Aber wird man klüger? Studentinnen und Studenten der Philosophie jedenfalls ist eher abzuraten, zumindest dann, wenn sie auf der Suche nach forschungsrelevanter Literatur sind.
__________
* ganz unabhängig von Gabriel (okay, der ist jetzt böse!) erleben wir derzeit, seit einigen Dekaden letztlich, ja eine Renaissance realistischer Sichtweisen in der Philosophie; explizit gegen die cultural turns. Da die cultural turns in den Kulturwissenschaften weiterhin maßgebend sind, erwachsen daraus nicht unbeträchtliche Spannungen zwischen KuWi und Philo. Beim 'Fall' Kathleen Stock geht es eben auch um Realismus versus Postmoderne (derzeitiger Philosophie-Mainstream versus derzeitiger KuWi-Mainstream). Stock agiert explizit als Realistin, und ihre Position sollte auch so gelesen werden.
Disclaimer: Ich habe es mir bei der Bundeszentrale erst besorgt, nachdem ich Christian Weidemanns vernichtende Rezension (die innerhalb der 'Szene' ja die Runde machte) gelesen habe. Ich wollte wohlwollend lesen, dachte auch ein bisschen an den Neid und die Häme, an denen in der akademischen Szene ja kein Mangel ist. Leider, muss ich sagen, hat Weidemann im wesentlichen Recht.
Zunächst einmal: ich kann so gut wie alle konkreten moralischen Thesen Gabriels unterschreiben. Humanismus, Universalismus, gegen Moralrelativiererei - für den Hausgebrauch ist das nicht schlecht. Eine Gabriel-Welt ist wohl eine, in der zu leben, gut zu leben ich mir im Großen und Ganzen vorstellen könnte; Differenzen können dann ja in einer seriösen, von gegenseitiger Achtung geprägten Debatte geklärt werden. (Ist überhaupt eine zwar grobe, aber ganz gute, weil zielführende Methode für einen Laien, einen moralphilosophischen Text zu bewerten: Möchtest Du in der Welt, die dort entworfen wird, gerne leben?) Da gibt es sozusagen nicht viel zu meckern, wenn ichs mal norddeutsch sagen darf. (Ja gut, die verunfallte Schwimmbadgeschichte, bei der Gabriel vergessen hat, die Perspektive der Kassiererin einzunehmen... Darf nicht passieren! Geschenkt, auch wenns peinlich war.)
Moralphilosophisch wird es schwieriger. Seinen starken Realismus würde ich so nicht mitmachen, und das Mackie-Problem präsentiert er deutlich unterkomplex. Ich selber, das sei hier ohne Argument zum besten gegeben, bin 'Wahrheitswert-Realist, ich halte moralische Urteile für zustimmungs- und somit wahrheitswertfähig. Mehr braucht es m.E. nicht. Allerdings m.E. auch nicht weniger. Ich könnte mit einem starken moralischen Realismus leben, aber er begründet ihn nicht. Weidemanns Kritik daran, dass Gabriel seine Begriffe sehr unsauber einführt und kaum argumentiert, ist leider zutreffend, auch die wohlwollende Interpretation rettet ihn nicht: Sicher, Gabriel schrieb ein populärwissenschaftliches Buch. Was er jeweils adressiert ist allen, die die Debatten so halbwegs kennen, klar. Aber in der Tat: "So geht es nicht!" (Weidemann)
Universalismus ist kein Eurozentrismus - richtig! (Übrigens schon faktisch nicht: das afrikanische Ubuntu, der chinesische Konfuzianismus, younameit waren und sind ebenfalls on the road to real universalism. Und mehr als on the road ist der Westen ja nun auch nicht...) Seine scharfe Kritik am Kulturrelativismus kann ich einerseits mitmachen. (Nein, Frauenbeschneidung, mein Beispiel, muss nicht "kulturwissenschaftlich interpretiert" werden - Frauenbeschneidung ist schlicht und einfach falsch, punkt. Wer es mir nicht glaubt fragt eine Frau, sofern er eine kennt.) Zugleich aber unterschlägt Gabriel die Dimension Geschichte/Geschichtlichkeit. Geschichtsphilosophisch haben wir hier die 6-Millionen-Dollar-Frage vorliegen. Humanität gilt immer und überall und galt letztlich auch immer und überall (da gehe ich mit Gabriel mit), zugleich haben wir die Existenz geschichtlicher Bedingtheiten zu akzeptieren (ansonsten sollten wir Kants Werke tatsächlich verbrennen; die aus heutiger Sicht völlig indiskutablen Schriften über 'Menschenracen' existieren ja nun mal). Just Kant selber hat interessante Antworten gegeben darauf, wie wir das dialektische Verhältnis zwischen geschichtlicher Bedingtheit und moralischer Unbedingtheit ausdeuten können; Gabriel hätte gut daran getan, noch einmal zur "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" zu greifen. Ja, aus moralischer Perspektive war es, Gabriels Beispiel, auch 1880 falsch, Kinder zu schlagen. Aus Gattungsperspektive muss man sagen: Es war damals leider so, man glaubte, das richtige zu tun, und es kann dargestellt werden, warum die humane Perspektive damals (noch) unvollkomen(er) entwickelt war (als heute). Nicht zuletzt aus dieser Zwitternatur des Menschengeschlechts - wir sind moralische Wesen und zugleich heteronom (kulturell, sozial, geschichtlich, ökonomisch, geschlechtlich, biologisch) bestimmte Naturwesen - erwachsen ja all unsere Probleme. Ein kleiner Schuss Ranke (und ein sehr großer Schuss Kant!) täte uns allen gut.
Schwierig wird es auch bei seiner Kritik an der Postmoderne. Über social-warriors, die ihre Angriffe auf Andersdenkende mit schlecht angelesener postmoderner Theorie befeuern ("Wer Rassist ist, bestimme ich" herrmanngöringt es aus ihnen), müssen wir nicht reden. Die Preisgabe der Kategorie Tatsache haben viele - darunter auch ein blutjunger Hamburger Philosophiestudent - schon damals in den End80ern für unselig gehalten. Bekanntlich von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus. To drop some names: Ian Hacking, Thomas Nagel, Martha Nussbaum. Soweit, so d'accord. Aber Gabriel übersieht, dass die Postmoderne ihre Verdienste hat. Was er kritisiert, und in dieser Schärfe auch zu recht kritisiert, ist die Postmoderne im Zustand ihrer Verhunzung. Sozusagen verdinglichter Derrida. Aber der Komplexität 'der' Postmoderne (die es als 'die' Postmoderne ohnedies nicht gibt) wird er nicht gerecht. Seine Darstellung Rortys ist nun wirklich bloße Karikatur, das geht so nicht. Rortys liberale Ironikerin ist denn doch komplexer.*
Empfehlung? Schwierig. Man wird nicht dümmer durch die Lektüre. Aber wird man klüger? Studentinnen und Studenten der Philosophie jedenfalls ist eher abzuraten, zumindest dann, wenn sie auf der Suche nach forschungsrelevanter Literatur sind.
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* ganz unabhängig von Gabriel (okay, der ist jetzt böse!) erleben wir derzeit, seit einigen Dekaden letztlich, ja eine Renaissance realistischer Sichtweisen in der Philosophie; explizit gegen die cultural turns. Da die cultural turns in den Kulturwissenschaften weiterhin maßgebend sind, erwachsen daraus nicht unbeträchtliche Spannungen zwischen KuWi und Philo. Beim 'Fall' Kathleen Stock geht es eben auch um Realismus versus Postmoderne (derzeitiger Philosophie-Mainstream versus derzeitiger KuWi-Mainstream). Stock agiert explizit als Realistin, und ihre Position sollte auch so gelesen werden.
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